Stärkung des Wir-Gefühls wichtig genommen
wurde. Neben der bevorzugten Form von Buß-,
Bitt- und Dankwallfahrten gab es in der frühen
Neuzeit noch die im Mittelalter eingeführten
Sühne- und Strafwallfahrten als Ersatz für
Haftstrafen.
gegen religiöse Bindungen an „heilige Seit der Neugestaltung der meisten Wallfahrts-
kirchen in barocker Prachtenfaltung wurden die-
se Orte mehr und mehr als „Psychotope“ der
Himmelsnähe empfunden. Im 18. Jahrhundert
war die Volksfrömmigkeit wieder so sehr durch
Wallfahrten geprägt, dass sich die aufgeklärte
Obrigkeit zeitweise zu Einschränkungen, mitun-
ter sogar zu Wallfahrtsverboten genötigt sah. Ein
Hauptgrund dafür wurde in der Flucht aus den
Alltagspflichten gesehen. Tatsächlich waren
Wallfahrten für das einfache Volk oft die einzige
legitime Chance, aus der Enge des Alltagslebens
zu entkommen. Die Motive der Buße und der
geistigen Erneuerung hinderten nicht daran, das
Pilgern als willkommene Abwechslung zu emp-
finden. Indem sich damit auch die Nachfrage
nach mehr Annehmlichkeiten verstärkte, war es
für die Wallfahrtsorte naheliegend, in dieser Früh-
form des Tourismus eine Chance zur Verbesse-
rung ihrer wirtschaftlichen Erwerbsmöglichkei-
ten zu nutzen.
Nach dem Aufkommen der Eisenbahnen ergab
sich ein zusätzlicher Anreiz zu Pilgerfahrten. Im
20. Jahrhundert konnte man scherzhaft bemer-
ken, dass die Bußwallfahrt durch die Buswall-
fahrt ersetzt wurde. Mit dem Auto war es über-
haupt leicht gemacht, Wallfahrten mit vergnüg-
lichen Tagesausflügen zu verbinden. Bei dem
schon längst auch Flugreisen umfassenden Ange-
bot an Pilgerreisen haben sich die Akzente noch
stärker in Richtung Kultur- und Vergnügungs-
tourismus verlagert.
Der weit reichende Wandel der gesellschaft-
lichen und religiösen Rahmenbedingungen ver-
anlasst gleichzeitig immer mehr Menschen zu
einer Suche nach einer geistigen Neuorientie-
rung. Dabei wird gegenwärtig – auch in den Kir-
chen der Reformation – die Spiritualität des Pil-
gerns neu hinterfragt. Dazu gehört mit der Rück-
besinnung auf das ursprüngliche Verständnis des
Pilgerns die Suche nach alternativen und öku-
1.Pilgern im Wandel
menisch ansprechenden Formen.
Wallfahrten sind im Christentum erst seit dem
Mittelalter eine verbreitete Kultpraxis. Die Chris-
ten der Antike hatten im Unterschied zu den
damaligen Hochreligionen eher eine Abneigung
Stätten“.1
Dafür sollte von den Christen das ganze Leben als
Pilgerschaft verstanden werden, im Wissen, dass
sie nur „Fremde und Gäste auf Erden“ (Hebr
11,13) sind. Folglich wurde unter peregrinatio
auch buchstäblich ein Unterwegssein in der
Fremde verstanden, für das keine Fixierung auf
geographische Zielpunkte maßgeblich war.
Wenn zur individuellen Lebensorientierung
und Gottsuche bestimmte Orte aufgesucht wur-
den, geschah dies auf Wegen in die Einsamkeit,
zu lebenden Lehrmeistern des Glaubens oder zu
Gräbern gerühmter Glaubenszeugen. Das Grab
Jesu und die Gräber der Apostel Petrus, Paulus
und Jakobus wurden vor allem für das Fernpil-
gern des Mittelalters bestimmend. Jerusalem,
Rom und Santiago de Compostela waren die
Hauptanziehungspunkte.
Seit dem späten Mittelalter wurden die durch
Kriege, Seuchen und andere Nöte zunehmenden
Lebensängste vor allem noch durch ein angst-
machendes Gottesbild verstärkt. Das bewirkte
eine vermehrte Suche nach Nothelfern an Orten
mit Reliquien von Heiligen und die Zuflucht bei
tröstlichen „Gnadenbildern“ von Maria als Für-
sprecherin. Der wachsenden Sorge um das eigene
Seelenheil kam zugleich das seit den Kreuzzügen
und besonders seit dem Heiligen Jahr 1300 auf-
blühende Ablasswesen entgegen. Im unruhigen
15. Jahrhundert hatte das „Wallen und Laufen“
zu den vorrangig als Ablassorte verstandenen
Wallfahrtszielen geradezu etwas Fieberhaftes an
sich. Das Bedenkliche dieses Krisenphänomens
wurde zwar von vielen einsichtigen Theologen
erkannt2,
doch die zur Besonnenheit mahnenden
Stimmen fanden wenig Gehör. Eine tiefgreifende
Ernüchterung brachte erst das darauffolgende
Jahrhundert der Reformation.
In der Neuzeit traten bei den Wallfahrten statt
Ablässen zunehmend persönliche Anliegen in
allen Lebenslagen in den Vordergrund. In der Zeit
der Gegenreformation nahm das Pilgern zudem
geordnetere Formen an, bei denen viel mehr als
die3
bisher das Gemeinschaftliche ritualisiert und