W allfahrtsziele und Routen im Mittelalter
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Wallfahrten entwickelten sich im Christentum verhält-
nismäßig spät durch gelegentliche Reisen ins Heilige
Land. Im Frühmittelalter wurde auch anderswo das
Interesse für die Gräber bekannter Glaubenszeugen
und für Reliquien bestimmend, wobei nun die An -
ziehung von Rom auffällig zunahm. Eine stark anwach-
sende Breitenwirkung bekam das W allfahrtswesen im
Hochmittelalter durch die Kreuzzüge und Neuerungen
der ki rchliche n Buß- und Ablasspraxis. Mit dem Rück -
zug der Kreuzritter aus dem Heiligen Land gab Papst
Bonifaz VIII. durch die Ausrufung des Jahres 1300 zum
„Jubeljahr“ und mit der Ankündigung eines „vollkom-
menen Ablasses“ die entscheidende W eichenstellung,
um die erste Massenwallfahrt nach Rom in Bewegung
zu bringen. Fortan folgten „Heilige Jahre“ in 50-jäh-
rigem, später auch 25-jährigem Rhythmus. Nach römi-
schem Vorbild entwickelte sich bald auch Santiago de
Compostela zu einem Hauptanziehungspunkt der
Fern pilger, wobei eine Urkundenfälschung dort sogar
ein größeres Angebot an Ablässen möglich machte.
Im deutschsprachigen Euro pa gewann im Spätmittel -
alter Einsiedeln so an Bedeutung, dass oft auch Fern pil -
ger in Richt ung Jerusalem, Rom und Santiago einen
Um weg über Einsiedeln machten. Die im Spätmittel -
alter aufkommende Marienfrömmigkeit begünstigte
zugleich das Entstehen regionaler Pilgerziele, von de -
nen im südliche n Bodenseegebiet anfangs St. Gallen
und Rankweil bevorzugt wurden. Hinzu kamen immer
mehr W allfahrtsorte von kleinräumiger Bedeutung.
sich
Zufolge der vermehrten Ziele verbanden und kreuzten
im Bodenseeraum je länger je mehr sehr verschie-
dene Pilgerwege.
Wer ins Hei lige Land zog, wählte zumeist ab Venedig
den Seeweg. Dorthin führte aus dem süddeutschen
Raum und der Nordostschweiz ein Hauptzugang vom
Bodensee über Feldkirch, Arlberg und Reschen durch
Südtirol. An dieser Route entstanden bis zum 14. Jahr -
hunde rt mit maßgeblicher Beteiligung der Ritterorden
mehr Pilgerunterkünfte als bei anderen Alpenüber gän -
gen.
Die Route über den Arlberg und Reschen wurde oft
auch in Richt ung Rom benützt, der zentrale Romweg
führte zwischen Brenner und Großem St. Bernhard
aber durch Graubünden nach Oberitalien. Bis ins 15.
Jahrhundert war der Septimer der wichtigste Bündne r
Alpenübergang, nach der Öffnung der Via Mala im
Jahre 1473 wurde hingegen der Splügen zum Haupt -
pass. Daneben benützten It alienreisende in den Räti -
schen Alpen auch andere Übergänge, wie etwa über
den Julier, Berninapass, San Bernardino und Lukma -
nier.
Das Reaktivieren der alten Römerstraßen war im
Hei ligen Römischen Reich deutscher Nation zwar
ohne hin eine Grundvoraussetzung der Italienpolitik
und der vermehrten Handels beziehungen, die Rom -
pilger waren aber in hohem Maße auch auf Etappen -
orte mit günstigen Unterkünften angewiesen. Dafür
eigneten sich bereits die im 8. Jahrhundert entstande-
nen Benediktinerklöster, wie zum Beispiel in Kempten,
Ottobeuren und auf der Reichenau, an den zentralen
HELMUT TIEFENTHALER
Alpenübergängen in Pfäfers und Disentis. Im 9. Jahr -
Fernpilgerwege im südlichen Bodenseeraum