Das Land ist in erster Linie sehr heterogen,
denn es liegt zwar in Österreich, aber ist an-
grenzend zur Schweiz und Deutschland. Es
besitzt verschiedene Naturlandschaften(See,
Fluss, Ebene, Hügel, Berge), kleine Städte,
Dörfer, Autobahnen und Landstraßen,
Landwirtschaft und moderne Industrien. Es
lebt vom Tourismus, aber auch von vielem
anderen, es besitzt also mehrere Identitäten.
Dieses Land ist grundsätzlich der Beweis, dass
Identität und Region nicht unbedingt überein-
stimmen müssen. Die vielseitigen Architek-
turen Vorarlbergs stellen ihre verschiedenen
topografischen, unternehmerischen, materiel-
len Identitäten in Frage und finden dann selbst
unterschiedliche Antworten.
Die Abwesenheit von einem erkennbaren
„Vorarlberger Stil“ kann in der fließenden und
unbestimmten Menge an Anhaltspunkten wie
eine treibende Kraft wirken. Sie ist der Beweis
einer gewissen Bewertungsautonomie und auf-
richtigen Haltung gegenüber den architektoni-
schen Gepflogenheiten.
Mehr als die Summe von
privaten Interessen
Die Ergebnisse sind sichtbar, wenn man durch
Vorarlberg auch ohne ein bestimmtes Ziel
fährt. Persönlich habe ich es vor einigen
Monaten ebenso gemacht. Es gab einige
Gebäude, die ich gerne sehen wollte, aber
einen Großteil der Eindrücke habe ich vom
Vorbeifahren bekommen. Als Erstes fiel mir
die geringe Menge an Bauten auf, die um jeden
Preis auffallend sein wollen. In vielen anderen
Regionen versucht man sich architektonisch
ins Rampenlicht zu stellen, wie in einer Art
Geltungssucht und Wetteifer mit den Groß-
städten. In Vorarlberg hat man das beruhigen-
de Gefühl, dass die „res publica“ ein Gesicht
hat und mehr als die Summe von vielen privaten
Interessen ist. Zu dem kommt der allgemeinhohe
Lebensstandard, unter den man nicht kommen
will.
Zweitens merkt man auch, dass es ein zuneh-
mendes allgemeines Verständnis über die
Typologie der verschiedenen Gebäude gibt.
Man würde sagen, Büros, Brücken, Einfamilien-
häuser, Rathäuser, öffentliche Gebäude hätten
ihre eigene bestimmte und erkennbare Form,
mit ein paar Grundregeln und keinerlei Beach-
tung der malerischen Prinzipien, die bis vor
einigen Jahrzehnten en vogue waren und nach
denen alles einfach alles sein hätte können.
Ein dritter Punkt betrifft die architektonische
und bauliche Qualität von einzelnen Gebäuden
in ihrer Präzision und Sorgfalt, neben ihrem
passenden Entwurf und dessen Ausführung.
Schlichtheit, Verständnis,
Qualität
Wir wissen, es ist schwierig und sogar unmög-
lich Generalisierungen über Qualität zu machen,
denn sie ist immer eine kleine Minderheit.
Aber nur dann, wenn diese Minderheit vor-
handen ist, bestehen die Voraussetzungen für
einen erkennbaren Architektur-Stil. In Vor-
arlberg gibt es Architekturbüros, die auf der
Suche nach einer formalen, energetischen und
konzeptionellen Ausdrucksweise sind, welche
einen kulturellen Wohlstand ermöglicht. Dabei
fallen Namen wie Baumschlager & Eberle,
Dietrich/Untertrifaller, Hermann Kaufmann,
Philip Lutz, Marte.Marte… und sicher gibt es
auch viele andere. Das Gefühl des Regionalis-
mus und einer nichtstilistischen Identität kommt
aus der Kombination der drei oben erwähnten
Betrachtungen – Schlichtheit, allgemeines
Verständnis, Qualität.
Verlangen nach Versöhnung
mit der Umgebung
In einem kleinen Architekturführer, einer Pub-
likation vom Vorarlberger Architektur Institut
und dem Kunsthaus Bregenz, erwähnt Otto
Kapfinger 260 innovative Gebäude, die in den
Jahren 1980 bis 2003 errichtet wurden. Im
Vorwort dieses Werks spricht man von Inno-
vation als Wahlkriterium. Wir wissen alle, wie
schwer und nichtlinear es ist, Innovation in
architektonische Qualität umzuwandeln.
Trotzdem: Es gibt Gebäude, die aussehen, als
ob sie aus der heroischen Periode des „interna-
tional style“ entstanden wären: eine nüchterne
und trockene modernistische Netzstruktur, mit
viel Glas und über dem Boden schwebenden
Körpern, durchsichtige Wände an dünnen
Trägern verankert, Wasserspiegel und Rampen.
Es gibt dann Architekturen, welche die
Schwerkraft verstärken, weil sie einen starken
Kontakt mit dem Boden suchen und lieber
introvertiert sein wollen. Weiters gibt es
Beispiele von einer gewissen Ausdruckskraft
und Bodenständigkeit, ohne sich dabei von
nostalgischen Gefühlen leiten zu lassen. Es
sind außerdem viele Projekte, die mit viel
Engagement das Energiesparen in eine formale
Handschrift verwandeln wollen. Anstatt von
einer stilistischen Einheit kann man von einer
Einigkeit mit der Umwelt sprechen, einer liebe-
vollen Spannung zwischen Natur und Topo-
grafie, den Farbtönen und der gesamten Wir-
kung gegenüber. Die außerordentliche Brücke
im Schanerloch von Marte.Marte, der faszinie-
rende Michelehof in Hard von Philip Lutz, die
poetische Hauptschule in Klaus von Dietrich/
Untertrifaller drücken meiner Meinung nach
dieses Verlangen nach Versöhnung mit der
Umgebung, jeder in der eigenen architektoni-
schen Sprache, am besten aus.
Die Zukunft wird in einigen Jahrzehnten ent-
scheiden, ob die mittelhohe Qualität der
Architektur der letzten Jahre in Vorarlberg
eine wirkliche Schule ist. Heutzutage ist das
verbreitete Netz von aufrichtigen, aufmerksa-
men, zivilisierten, einfachen, verstreuten, leich-
ten Objekten ein an und für sich sehr gutes
Resultat. Das Auge des Mailänder Architekten
und Kritikers auf Reise in die Nordseite der
Alpen nimmt viele positive Signale wahr, und
merkt, dass auch in der einfachen Gestaltung
zusätzliche Qualität erzeugt werden kann. Das
Interesse vieler Architekturwerke in Vorarlberg
richtet sich an das Thema Geografie, als wun-
derbare Inspirations- und Vorstellungsquelle.
Geografie – wohl gemerkt – nicht als
Erinnerung an die Vergangenheit sondern als
Zukunftsperspektive.
Sebastiano Brandolini, Architekt, Mailand
E-Mail: brandarch@tiscali.it
sene Vergangenheit wiederherzustellen, ihre
Unternehmerperspektiven, ihre Wünsche und
ethische Verantwortung in Übereinstimmung
mit der empirischen Realität der Bauwelt zu
bringen. Dafür identifizieren sie sich manch-
mal mehr mit einer schaffenden Haltung als
mit einem bestimmten Baustil.
Spiegel des Denkens und Tuns
Vielleicht ersuchte Frampton die Architekten-
gemeinschaft ganz einfach die Realität in ihrer
regionalen Erscheinung zu erkennen. Die
Architektur ist in der überwältigenden Mehr-
heit ein auf schattierte Verhältnisse beschränk-
tes Faktum, auch wenn die Ideen auf Tatsachen
beruhen, die von weit her kommen. Die Ein-
zelnen, die den Beruf des Planers ausüben,
gehören meistens zu einer kleinen Welt. In der
tektonischbaulichen Form widerspiegelt sich
laut Frampton sowohl das Denken als auch
das Tun und findet ihre Wurzel in der Ver-
nunft und in der Regionalität. Das spürt jeder
italienische Architekt, der in Deutschland mit
gelochten Ziegeln bauen will. Das spürt aber
auch jeder finnische Architekt, der in Italien
mit Holz arbeiten will. Der vergebliche Ver-
such einer Verbreitung von Know-how, sei es
im technischen oder stilistischen Sinne, oder
aber nur von Lebensstil, wirkt für die Architekten
wie ein kleiner Schock (vor ca. 10 Jahren sagte
man in Finnland, dass Architektur mehr einem
Elefanten als einem Schmetterling ähnelt...).
Auch aus diesem Grund ist es wichtig, eine
kollektive Identität zu schaffen. Aber wer kann
einen roten Faden zeichnen, einen gemeinsa-
men Weg für ein allgemeines Nachempfinden
und für eine offene Haltung gegenüber der
eigenen Identität abstecken?
Vorarlberg – Raum mit
mehreren Identitäten
Aus diesem und anderen Gründen ist Vorarl-
berg ein interessanter Raum, eine Fallstudie
von Regionalismus in der Globalisierung: Diese
Region liefert eine konstante Qualität und ver-
zichtet gern auf ein architektonisches Feuerwerk.
In den achtziger Jahren schlug der Architektur-
historiker Kenneth Frampton den kritischen
Regionalismus als Interpretation der Vergangenheit
und Zukunftsvision der Architektur vor. Er wurde in
der damaligen Zeit stark kritisiert, weil er gegen
alle wachsenden Symptome der Globalisierung
ging, die dann zum Beispiel in Postmoderne, Hi-
Tech und Dekonstruktivismus – nur um einige ihrer
möglichen Ausdrucksformen zu zitieren – einflos-
sen. Damals waren Themen wie Regionalismus,
Regionen und Schulen für viele eine Art Verrat
gegenüber der internationalen Modernität, etwas
Unnützes, denn die Hauptthemen waren anderer
Art. Aber heute, 25 Jahre später, kann man viel-
leicht – auf Grund der vergangenen Erfahrung –
wieder von Regionalismus sprechen, ohne neue
Wege in die Zukunft bestreiten zu wollen.
Man will regionale Realitäten aus verschiede-
nen Dimensionen erforschen und will verstehen,
welche Mechanismen die Beziehung zwischen
Kultur, Technik und Geographie regeln. Die
Rede ist hier von wichtigen Zentren für die
Entwicklung einer architektonischen Weltan-
schauung, von Schauplätzen, die in Qualität
investiert haben und somit einen Dialog mit
der Quantität geschaffen haben: Graubünden,
Spanien, Chile, Vorarlberg, aber auch Nor-
wegen, British Columbia, Südaustralien. Diese
unterschiedlich großen Zonen führen eine Art
Selbstanalyse: Sie versuchen ihre eigene zerris-
Sebastiano Brandolini
Konstante Qualität
ohne architektonisches Feuerwerk
Fotos:
Sebastiano
Brandolini
Regionalismus in der Globalisierung
ARCHITEKTURRAUM
VORARLBERG
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Hauptschule Klaus der Architekten Dietrich/Untertrifaller, Weiler
Hafengebäude Rohner in Fußach der Architekten Baumschlager & Eberle Gemeindehaus Raggal des Architekten Johannes Kaufmann
Brücke im Schanerloch in Dornbrin der Architekten Marte.Marte
Foto:
Gemeindeamt Raggal