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Full text: Vorum 1997 - 2015 (1997 - 2015)

Das Land ist in erster Linie sehr heterogen, 
denn es liegt zwar in Österreich, aber ist an- 
grenzend zur Schweiz und Deutschland. Es 
besitzt verschiedene Naturlandschaften(See, 
Fluss, Ebene, Hügel, Berge), kleine Städte, 
Dörfer, Autobahnen und Landstraßen, 
Landwirtschaft und moderne Industrien. Es 
lebt vom Tourismus, aber auch von vielem 
anderen, es besitzt also mehrere Identitäten. 
Dieses Land ist grundsätzlich der Beweis, dass 
Identität und Region nicht unbedingt überein- 
stimmen müssen. Die vielseitigen Architek- 
turen Vorarlbergs stellen ihre verschiedenen 
topografischen, unternehmerischen, materiel- 
len Identitäten in Frage und finden dann selbst 
unterschiedliche Antworten. 
Die Abwesenheit von einem erkennbaren 
„Vorarlberger Stil“ kann in der fließenden und 
unbestimmten Menge an Anhaltspunkten wie 
eine treibende Kraft wirken. Sie ist der Beweis 
einer gewissen Bewertungsautonomie und auf- 
richtigen Haltung gegenüber den architektoni- 
schen Gepflogenheiten. 
Mehr als die Summe von 
privaten Interessen 
Die Ergebnisse sind sichtbar, wenn man durch 
Vorarlberg auch ohne ein bestimmtes Ziel 
fährt. Persönlich habe ich es vor einigen 
Monaten ebenso gemacht. Es gab einige 
Gebäude, die ich gerne sehen wollte, aber 
einen Großteil der Eindrücke habe ich vom 
Vorbeifahren bekommen. Als Erstes fiel mir 
die geringe Menge an Bauten auf, die um jeden 
Preis auffallend sein wollen. In vielen anderen 
Regionen versucht man sich architektonisch 
ins Rampenlicht zu stellen, wie in einer Art 
Geltungssucht und Wetteifer mit den Groß- 
städten. In Vorarlberg hat man das beruhigen- 
de Gefühl, dass die „res publica“ ein Gesicht 
hat und mehr als die Summe von vielen privaten 
Interessen ist. Zu dem kommt der allgemeinhohe 
Lebensstandard, unter den man nicht kommen 
will. 
Zweitens merkt man auch, dass es ein zuneh- 
mendes allgemeines Verständnis über die 
Typologie der verschiedenen Gebäude gibt. 
Man würde sagen, Büros, Brücken, Einfamilien- 
häuser, Rathäuser, öffentliche Gebäude hätten 
ihre eigene bestimmte und erkennbare Form, 
mit ein paar Grundregeln und keinerlei Beach- 
tung der malerischen Prinzipien, die bis vor 
einigen Jahrzehnten en vogue waren und nach 
denen alles einfach alles sein hätte können. 
Ein dritter Punkt betrifft die architektonische 
und bauliche Qualität von einzelnen Gebäuden 
in ihrer Präzision und Sorgfalt, neben ihrem 
passenden Entwurf und dessen Ausführung. 
Schlichtheit, Verständnis, 
Qualität 
Wir wissen, es ist schwierig und sogar unmög- 
lich Generalisierungen über Qualität zu machen, 
denn sie ist immer eine kleine Minderheit. 
Aber nur dann, wenn diese Minderheit vor- 
handen ist, bestehen die Voraussetzungen für 
einen erkennbaren Architektur-Stil. In Vor- 
arlberg gibt es Architekturbüros, die auf der 
Suche nach einer formalen, energetischen und 
konzeptionellen Ausdrucksweise sind, welche 
einen kulturellen Wohlstand ermöglicht. Dabei 
fallen Namen wie Baumschlager & Eberle, 
Dietrich/Untertrifaller, Hermann Kaufmann, 
Philip Lutz, Marte.Marte… und sicher gibt es 
auch viele andere. Das Gefühl des Regionalis- 
mus und einer nichtstilistischen Identität kommt 
aus der Kombination der drei oben erwähnten 
Betrachtungen – Schlichtheit, allgemeines 
Verständnis, Qualität. 
Verlangen nach Versöhnung 
mit der Umgebung 
In einem kleinen Architekturführer, einer Pub- 
likation vom Vorarlberger Architektur Institut 
und dem Kunsthaus Bregenz, erwähnt Otto 
Kapfinger 260 innovative Gebäude, die in den 
Jahren 1980 bis 2003 errichtet wurden. Im 
Vorwort dieses Werks spricht man von Inno- 
vation als Wahlkriterium. Wir wissen alle, wie 
schwer und nichtlinear es ist, Innovation in 
architektonische Qualität umzuwandeln. 
Trotzdem: Es gibt Gebäude, die aussehen, als 
ob sie aus der heroischen Periode des „interna- 
tional style“ entstanden wären: eine nüchterne 
und trockene modernistische Netzstruktur, mit 
viel Glas und über dem Boden schwebenden 
Körpern, durchsichtige Wände an dünnen 
Trägern verankert, Wasserspiegel und Rampen. 
Es gibt dann Architekturen, welche die 
Schwerkraft verstärken, weil sie einen starken 
Kontakt mit dem Boden suchen und lieber 
introvertiert sein wollen. Weiters gibt es 
Beispiele von einer gewissen Ausdruckskraft 
und Bodenständigkeit, ohne sich dabei von 
nostalgischen Gefühlen leiten zu lassen. Es 
sind außerdem viele Projekte, die mit viel 
Engagement das Energiesparen in eine formale 
Handschrift verwandeln wollen. Anstatt von 
einer stilistischen Einheit kann man von einer 
Einigkeit mit der Umwelt sprechen, einer liebe- 
vollen Spannung zwischen Natur und Topo- 
grafie, den Farbtönen und der gesamten Wir- 
kung gegenüber. Die außerordentliche Brücke 
im Schanerloch von Marte.Marte, der faszinie- 
rende Michelehof in Hard von Philip Lutz, die 
poetische Hauptschule in Klaus von Dietrich/ 
Untertrifaller drücken meiner Meinung nach 
dieses Verlangen nach Versöhnung mit der 
Umgebung, jeder in der eigenen architektoni- 
schen Sprache, am besten aus. 
Die Zukunft wird in einigen Jahrzehnten ent- 
scheiden, ob die mittelhohe Qualität der 
Architektur der letzten Jahre in Vorarlberg 
eine wirkliche Schule ist. Heutzutage ist das 
verbreitete Netz von aufrichtigen, aufmerksa- 
men, zivilisierten, einfachen, verstreuten, leich- 
ten Objekten ein an und für sich sehr gutes 
Resultat. Das Auge des Mailänder Architekten 
und Kritikers auf Reise in die Nordseite der 
Alpen nimmt viele positive Signale wahr, und 
merkt, dass auch in der einfachen Gestaltung 
zusätzliche Qualität erzeugt werden kann. Das 
Interesse vieler Architekturwerke in Vorarlberg 
richtet sich an das Thema Geografie, als wun- 
derbare Inspirations- und Vorstellungsquelle. 
Geografie – wohl gemerkt – nicht als 
Erinnerung an die Vergangenheit sondern als 
Zukunftsperspektive. 
Sebastiano Brandolini, Architekt, Mailand 
E-Mail: brandarch@tiscali.it 
sene Vergangenheit wiederherzustellen, ihre 
Unternehmerperspektiven, ihre Wünsche und 
ethische Verantwortung in Übereinstimmung 
mit der empirischen Realität der Bauwelt zu 
bringen. Dafür identifizieren sie sich manch- 
mal mehr mit einer schaffenden Haltung als 
mit einem bestimmten Baustil. 
Spiegel des Denkens und Tuns 
Vielleicht ersuchte Frampton die Architekten- 
gemeinschaft ganz einfach die Realität in ihrer 
regionalen Erscheinung zu erkennen. Die 
Architektur ist in der überwältigenden Mehr- 
heit ein auf schattierte Verhältnisse beschränk- 
tes Faktum, auch wenn die Ideen auf Tatsachen 
beruhen, die von weit her kommen. Die Ein- 
zelnen, die den Beruf des Planers ausüben, 
gehören meistens zu einer kleinen Welt. In der 
tektonischbaulichen Form widerspiegelt sich 
laut Frampton sowohl das Denken als auch 
das Tun und findet ihre Wurzel in der Ver- 
nunft und in der Regionalität. Das spürt jeder 
italienische Architekt, der in Deutschland mit 
gelochten Ziegeln bauen will. Das spürt aber 
auch jeder finnische Architekt, der in Italien 
mit Holz arbeiten will. Der vergebliche Ver- 
such einer Verbreitung von Know-how, sei es 
im technischen oder stilistischen Sinne, oder 
aber nur von Lebensstil, wirkt für die Architekten 
wie ein kleiner Schock (vor ca. 10 Jahren sagte 
man in Finnland, dass Architektur mehr einem 
Elefanten als einem Schmetterling ähnelt...). 
Auch aus diesem Grund ist es wichtig, eine 
kollektive Identität zu schaffen. Aber wer kann 
einen roten Faden zeichnen, einen gemeinsa- 
men Weg für ein allgemeines Nachempfinden 
und für eine offene Haltung gegenüber der 
eigenen Identität abstecken? 
Vorarlberg – Raum mit 
mehreren Identitäten 
Aus diesem und anderen Gründen ist Vorarl- 
berg ein interessanter Raum, eine Fallstudie 
von Regionalismus in der Globalisierung: Diese 
Region liefert eine konstante Qualität und ver- 
zichtet gern auf ein architektonisches Feuerwerk. 
In den achtziger Jahren schlug der Architektur- 
historiker Kenneth Frampton den kritischen 
Regionalismus als Interpretation der Vergangenheit 
und Zukunftsvision der Architektur vor. Er wurde in 
der damaligen Zeit stark kritisiert, weil er gegen 
alle wachsenden Symptome der Globalisierung 
ging, die dann zum Beispiel in Postmoderne, Hi- 
Tech und Dekonstruktivismus – nur um einige ihrer 
möglichen Ausdrucksformen zu zitieren – einflos- 
sen. Damals waren Themen wie Regionalismus, 
Regionen und Schulen für viele eine Art Verrat 
gegenüber der internationalen Modernität, etwas 
Unnützes, denn die Hauptthemen waren anderer 
Art. Aber heute, 25 Jahre später, kann man viel- 
leicht – auf Grund der vergangenen Erfahrung – 
wieder von Regionalismus sprechen, ohne neue 
Wege in die Zukunft bestreiten zu wollen. 
Man will regionale Realitäten aus verschiede- 
nen Dimensionen erforschen und will verstehen, 
welche Mechanismen die Beziehung zwischen 
Kultur, Technik und Geographie regeln. Die 
Rede ist hier von wichtigen Zentren für die 
Entwicklung einer architektonischen Weltan- 
schauung, von Schauplätzen, die in Qualität 
investiert haben und somit einen Dialog mit 
der Quantität geschaffen haben: Graubünden, 
Spanien, Chile, Vorarlberg, aber auch Nor- 
wegen, British Columbia, Südaustralien. Diese 
unterschiedlich großen Zonen führen eine Art 
Selbstanalyse: Sie versuchen ihre eigene zerris- 
Sebastiano Brandolini 
Konstante Qualität 
ohne architektonisches Feuerwerk 
Fotos: 
Sebastiano 
Brandolini 
Regionalismus in der Globalisierung 
ARCHITEKTURRAUM 
VORARLBERG 
4 5 
Hauptschule Klaus der Architekten Dietrich/Untertrifaller, Weiler 
Hafengebäude Rohner in Fußach der Architekten Baumschlager & Eberle Gemeindehaus Raggal des Architekten Johannes Kaufmann 
Brücke im Schanerloch in Dornbrin der Architekten Marte.Marte 
Foto: 
Gemeindeamt Raggal
	        
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