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Full text: Vorum 1997 - 2015 (1997 - 2015)

Die Menschheit steht vor gigantischen Heraus- 
forderungen. Die größten langfristigen Risiken 
betreffen in einer Welt von zukünftig zehn Milliarden 
Menschen Probleme auf der Ressourcenseite 
(Wasser, Nahrung, Energie, etc.) und die Folgen der 
Klimakatastrophe. Hier sind entsprechende Verein- 
barungen zwischen Nord und Süd erforderlich, um 
globale Leitplanken fair und im Konsens zu etablie- 
ren. Gelingt das nicht, drohen ein  Kollaps oder 
eine Refeudalisierung der Welt (Brasilianisierung). 
Es ist dafür zu sorgen, dass alle ökonomischen 
Akteure im Rahmen ihrer ökonomischen Leis- 
tungsfähigkeit dazu beitragen, unserem Gemein- 
wesen die dringend erforderliche Stabilität zu 
erhalten bzw. zurückzugeben, z.B. durch Steuer- 
zahlung. In der Tradition des Club of Rome 
sind dabei die Ressourcenfragen die entschei- 
denden. Sie bestimmen über die Zukunft der 
Menschheit. Nur eine auf Balance zielende 
Global Governance kann hier zielführend sein: 
Ökosozial statt marktradikal. 
Staat in Geiselhaft 
Wie ist in diesem Kontext die aktuelle Welt- 
finanzmarktkrise einzuordnen? Die Finanzkrise 
zeigt zum einen deutlich, was das Resultat ist, 
wenn „freie“ Märkte „Plünderung“ erlauben 
und honorieren, und wenn es massive Inter- 
essen gibt, die diese „Bonanza“ wollen – erin- 
nert sei an die Ablehnung jeder zusätzlichen 
Regulierung im Finanzsektor auf dem G8- 
Gipfel in Heiligendamm in 2007 durch die 
USA und Großbritannien. Die bisherigen 
„Rettungsschirme“ für den Finanzmarkt sind 
daher nur ein erster Schritt zur Stabilisierung 
der Situation. „Wenn es brennt, muss man 
löschen“. Der anschließende Umbau des 
Systems bleibt aber die große Herausfor- 
derung. Und öffentlich noch nicht adäquat dis- 
kutiert ist das große Risiko und das Problem, 
das darin besteht, dass sich als Folge einer 
unzureichend geordneten Globalisierung wich- 
tige Wertschöpfungssegmente einer adäquaten 
Besteuerung entziehen. Dies führt einerseits zu 
exorbitanten privaten Vermögensanhäufungen, 
die mittlerweile von nur wenigen institutionel- 
len Anlegern verwaltet werden, andererseits zu 
einer immer weitergehenden weltweiten 
Verschuldung der öffentlichen Hände. Dieses 
Muster verschärft sich in der Krise. Um uns 
vor noch größeren Schäden zu retten, muss 
sich der Staat in der aktuellen Krise weiter ver- 
schulden. Geiselhaft ist ein gutes Bild für die 
Charakterisierung der Situation, in der wir uns 
befinden. Dies kann langfristig nicht gut 
gehen. 
Global ordnen 
Die anstehenden Probleme kann 
die Staatengemeinschaft nur mit 
einer vollständigen Neuordnung 
der Finanzmärkte in den Griff 
bekommen. Die Forderung 
nach einem „Bretton Woods 
II“, einer Konferenz mit dem 
Ziel, einen „internationalen 
Ordnungsrahmen für die Öko- 
nomie zu schaffen“ oder des 
Club of Rome mit seiner 
Forderung „A New Path for 
World Development“ oder des 
Ökosozialen Forums Europa 
und der Global Marshall Plan 
Initiative mit ihrem Ruf nach 
einer weltweiten Ökosozialen 
Marktwirtschaft treffen den 
Punkt und zeigen auf, was jetzt 
politisch notwendig ist. Not- 
wendig ist mittelfristig eine 
Harmonisierung der Besteue- 
rung, zunächst der Besteuerbe- 
messungsgrundlagen, weltweit, 
vor allem die Austrocknung der 
Steuerparadiese und die faire 
Einbeziehung aller Wert- 
schöpfungsformen in diesen 
Rahmen. 
Die Verbesserung der Schulden- 
situation der Staaten ist über- 
fällig. In Demokratien wird die 
Entschuldung nicht dadurch gelin- 
gen, dass die Bürger auf Ausbild- 
ung für ihre Kinder oder funk- 
tionierende Infrastrukturen ver- 
zichten, nur damit wenige, die 
keine Steuern zahlen, immer 
größere Vermögen anhäufen. Als Alternative 
müssen die großen Gewinner ökonomischer 
Prozesse regulativ dafür gewonnen werden, 
deutlich mehr als bisher für den Erhalt des 
Systems und seiner Stabilität zu tun und zu 
einer adäquaten Finanzierung beizutragen. 
Der Ausblick 
Die Lage ist schwierig, eine bessere Regulie- 
rung die Schlüsselfrage. Dass mit den Themen 
Bretton Woods II, der „Einhegung“ der Steuer- 
paradiese und Kyoto II jetzt  die Hälfte der 
Global-Governance-Fragen verhandelt wird, 
und zwar die unter Eigentumsaspekten wichti- 
gere Hälfte, eröffnet ein Potential. Dass die 
Thematik zunächst in Washington und im 
April in Großbritannien auf G20-Ebene und 
nicht auf G8-Ebene adressiert wurde, ist der 
Problemlage angemessen. Das stärkt die Hoff- 
nung, dass endlich die richtigen Schritte im 
Bereich Global Governance initiiert werden: 
ökosozial statt marktradikal. 
Franz Josef Radermacher, Professor für 
Informatik an der Universität Ulm, Vize- 
präsident des Ökosozialen Forum Europa in 
Wien sowie Mitglied des Club of Rome 
E-Mail: radermacher@faw-neu-ulm.de; 
www.faw-neu-ulm.de 
Weiterführende Links: 
www.clubofrome.de, www.oesfo.at, 
www.globalmarshallplan.org 
Talentierte Lösung 1: 
Geld an die Gemeinde/Region binden 
Der erste Schritt ist die Bindung von Geld in der 
Gemeinde/Region und die Förderung von lokalen 
Kreisläufen. Langenegg kann in diesem Bereich 
auf wichtige Erfahrungen und die erfolgreiche 
Einführung des talentierten Gutscheinsystems ver- 
weisen. Besonders wichtig: das Zusammenspiel 
von Bürgerinnen und Bürgern, der Gemeinde, 
Raiffeisenbank, Lebenshilfe, den Vereinen und 
Betrieben im Ort. 
Talentierte Lösung 2: 
Zusätzliche kommunale/regionale Geldschöpfung 
und Geldkreisläufe schaffen 
Der zweite, derzeit wichtigere Schritt ist das 
Verfügbarmachen von zusätzlichem inflations- 
sicherem Geld in Form von Talente-Geld. Es 
ist durch Leistungsversprechen der Beteiligten 
besichert und bleibt stabil dank zentraler 
Aspekte der Talente-Philosophie wie der  Zins- 
freiheit. Das Talente-Geld ist vor allem in den 
Bereichen Soziales (Nachbarschaftshilfe), Nah- 
versorgung, Vereinsförderung sowie für Klein- 
und Mittelbetriebe nachweislich wirksam. 
So funktioniert es: 
Alle Mitglieder führen ein eigenes Konto, ähn- 
lich wie bei einer Bank, nur ohne Zinsen. Markus 
liefert Riebelmais an Maria, bekommt dafür 
Talente und bezahlt damit die Leistungen des 
Sozialsprengels im Rahmen der Pflegesicherung 
für seine Mutter. Franz, der dort mitarbeitet, wird 
zu 50 Prozent in Talenten entlohnt. Mit diesen 
bezahlt er beim Bäcker seinen Einkauf, etc. 
Der erste Schritt ist zu prüfen, welche Fragen 
und Anliegen eine Gemeinde/Region bewegen. 
Im zweiten Schritt gilt es zu prüfen, wie die 
talentierten Zahlungsmittel eingesetzt werden 
können, um einen klaren Nutzen zu schaffen. 
Dazu gibt es konkrete Unterstützung durch: 
1.) „Gemeinde Gelder“: ein vom Büro für 
Zukunftsfragen gefördertes Projekt für Gemein- 
den/Regionen, das den Meinungsbildungsprozess 
zu diesem Thema fachlich begleitet. 
2.) „Gemeinschaft Vorsorge Nahversorgung“: 
ein Interreg-Projekt über regionale Zahlungs- 
mittel. 
In unsicheren Zeiten machen Modelle, die ihre 
Standfestigkeit bereits unter Beweis stellen, 
Mut. Wie dauerhaft tragfähig diese Lösungen 
sind, hängt auch an den gestaltenden Perso- 
nen. Sie fördern so krisenfeste, spekulationsun- 
abhängige Geld- und Wertschöpfung in 
Gemeinden und Regionen. 
Gernot Jochum-Müller, 
Unternehmensberater und Obmann des 
Talente-Tauschkreis Vorarlberg 
E-Mail: gernot@jochum-mueller.at 
http://www.talentiert.at 
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Vorarlberg spinnt ... oder doch nicht? Mitten in 
der Finanzkrise probt eine Gruppe Talentierter 
(Private, Betriebe, soziale Einrichtungen und 
eine Gemeinde) den Aufstand mit eigenem 
„sicherem“ Geld. Natürlich ist dieses Geld mit 
Namen Talent nicht einfach vom Himmel gefal- 
len. Es wurde 1995 geboren und beweist seither, 
dass es zuverlässig und absolut stabil ist. 1800 
VorarlbergerInnen nutzen das Talente-Geld; 2008 
wurden in ca. 13.000 Geschäften über 2,5 Mio. 
Talente umgesetzt. 
In druidischer Voraussicht nutzt Langenegg seit 
dem Frühjahr 2008 die talentierten Scheine, um 
Kaufkraft ans Dorf zu binden und die Nahver- 
sorgung aufrecht zu erhalten. Im ersten Jahr 
wurden Langenegger Talente im Wert von über 
97.000 Euro in Umlauf gesetzt. Jeder dieser 
Scheine wurde mindestens ein weiteres Mal 
eingesetzt. Was eine hohe Kaufkraftbindung 
darstellt. Wie kommt’s, dass bereits vor über 
zehn Jahren Menschen in Vorarlberg auf ein 
ergänzendes Geld setzten? Eine hoch aktuelle 
Spurensuche bei den Talentierten. 
Unser herkömmliches Geldsystem ist auf men- 
genmäßiges Wachstum ausgerichtet. Daraus 
ergibt sich ein zyklischer Zusammenbruch von 
Teilen des Wirtschaftssystems. Bei unserem 
(nördlichen) Zinsniveau passiert dies einmal, 
in südlicheren Ländern ca. zweimal in einem 
(!) Menschenleben (Margrit Kennedy, 2008, 
Philosophicum Lech zum Thema Geld). Der 
systembedingte Wachstumszwang durchdringt 
alle Bereiche unseres Lebens. In der Folge sind 
wir als Gesellschaft nicht mehr fähig (willens), 
zwischenmenschliche Bereiche, die geringe 
oder keine Gewinne abwerfen (Bildung, Pflege, 
Alterssicherung) zu finanzieren, und suchen 
händeringend nach monetär „günstigen“ 
Lösungen. Gleichzeitig verstärken sich im her- 
kömmliche Geldsystem die Gier des Systems 
und die Gier der einzelnen, wie Banker derzeit 
nur zu gerne bestätigen: Stichworte: mehr 
Zinsen, höhere Gewinne ... 
Fazit: Unser Geldsystem führt zu immer größe- 
ren Geldmengen und erzeugt so wiederum 
Wachstumszwang, der schlussendlich in Abwer- 
tungen endet. Striktere Regelungen sind wich- 
tig, lösen das eigentliche Problem unseres 
Geldsystems aber nicht. Genau hier setzt das 
Talente-Geld an. Es fördert regional leistbare 
(Waren- und Dienstleistungs-)Kreisläufe und 
eignet sich nicht zum Spekulieren. Doch wie 
geht das? 
Gernot Jochum-Müller Franz Josef Radermacher 
8 
FINANZEN 
WIRTSCHAFT 
Ökosozial statt 
marktradikal 
Wie die Gallier, 
der Krise zum Trotz! 
Foto: 
Talente-Tauschkreis 
Ergänzendes Zahlungsmittel Talente-Tauschen 
Neuordnung des globalen Wirtschaftens 
„Mitten in der Finanz- 
krise probt eine Gruppe 
Talentierter den 
Aufstand mit eigenem 
sicherem Geld“ 
„In Demokratien wird 
die Entschuldung nicht 
dadurch gelingen, dass 
die Bürger auf Ausbild- 
ung für ihre Kinder 
oder funktionierende 
Infrastrukturen verzich- 
ten, nur damit wenige, 
die keine Steuern zahlen, 
immer größere Vermögen 
anhäufen“ 
Droht der freien Marktwirtschaft der Ausverkauf? 
Foto: 
Talente-Tauschkreis 
Foto: 
Urs 
Oskar 
Keller 
Foto: Radermacher
	        
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