Wertvoll ist, was selten ist
Die Naturvielfalt zwischen Bodensee und Piz Buin
befindet sich im Wandel. Es ist höchste Zeit, die
Gefahren zu erkennen und Chancen für eine gute
Entwicklung zu nützen.
Die weltweit größte Artenvielfalt finden wir in Mitteleu-
ropa. Wirklich? Haben wir nicht gelernt, dass die meisten
Pflanzen und Tiere in tropischen Regenwäldern leben?
Nun, bei großräumiger Betrachtung stimmt dies auch.
Zoomen wir aber auf eine Fläche von wenigen Quadrat-
metern, dann wachsen in mitteleuropäischen Magerwie-
sen mehr unterschiedliche Gräser und Blumen als in
jedem anderen Lebensraum der Erde.
Wird die Wiese gedüngt, verschwindet die Blumen-
vielfalt. Bauern, die ihre bunten Magerwiesen heute noch
in traditioneller Weise einmal pro Jahr mähen, erhalten
ausgesprochen artenreiche Lebensräume – unverzichtbare
Elemente einer attraktiven Kulturlandschaft.
Natürlich ist die landschaftliche Vielfalt Vorarlbergs
auch durch die geografische Lage am Nordrand der Alpen
bedingt: Auf vergleichsweise kleinem Raum erstreckt
sich die Landesfläche über unterschiedlichste geologische
Zonen, vom Alpenvorland mit dem Bodensee über die
Kalkalpen bis zu den kalkfreien Zentralalpen mit dem
über 3.000 Meter hohen Piz Buin im Montafon.
Grenzräume zwischen Natur- und Kulturlandschaft
Der Großteil der Bevölkerung lebt und arbeitet in
den Talräumen. Zugleich finden wir hier die produktivs-
ten und am intensivsten genutzten Landwirtschaftsflä-
chen. Trotz der vielfältigen, oft auch konträren Nutzungs-
ansprüche sind im Rheintal und im Walgau aber noch
erstaunlich großflächige Riedlandschaften erhalten –
herausragende Lebensräume für seltene Pflanzen- und
Tierarten und zugleich stark frequentierte Naherholungs-
gebiete. Konflikte zwischen Nutzung und Bewahrung
bleiben daher nicht aus.
Riede mit ihren Streuwiesen sind extensiv genutzte
Moore – Lebensräume, für die Vorarlberg eine besondere
Verantwortung trägt. Denn hohe Niederschlagsmengen
sorgen für einen Moorreichtum, der seinesgleichen sucht.
Der hintere Bregenzerwald gilt gar als der moorreichste
Naturraum Österreichs.
Und natürlich ist da der Bodensee mit seiner ein-
drucksvollen Uferlandschaft – ein sensibler Naturraum
und wichtiger Erholungsraum nicht nur für die Bevölke-
rung des Rheintals.
Vielfältige Nutzung
Kurze Distanzen erlauben, ohne großen Aufwand
die landschaftliche Vielfalt Vorarlbergs vom Tal bis ins
Hochgebirge zu erleben. Besonders attraktiv sind die
traditionellen Wiesen- und Weidelandschaften, entstan-
den durch jahrhunderte- und jahrtausendelange Nutzung.
In den Mittelgebirgslagen finden wir diese oft eng
verzahnt mit Wäldern und den höher gelegenen Natur-
räumen, in denen menschliche Aktivitäten zumindest auf
den ersten Blick kaum erkennbar sind. Dieses Nebenein-
ander unterschiedlicher Nutzungsformen, mit langen
Grenzlinien durch Waldränder und Ufergehölze, schafft
eine äußerst ansprechende Vielfalt. Kein Wunder, dass
traditionelle Kulturlandschaften auch aus touristischer
Sicht unverzichtbar sind.
Je höher und steiler das Gelände, desto mehr gehen
die Kulturlandschaften in Naturlandschaften über. Dabei
sind die Grenzen fließend. Oft haben sich die Grenzen in
den vergangenen Jahrhunderten auch verschoben.
Im Berggebiet wird so manche Fläche, die einst gemäht
oder beweidet wurde, heute wieder der natürlichen
Entwicklung überlassen. Die Landschaft verändert sich
dadurch – ob positiv oder negativ, liegt im Auge des
Betrachters.
Viele Tourismusbroschüren werben mit Fotos
der unberührten Gebirgslandschaft. Kleinwalsertal,
Hochtannberg, Arlberg, Verwall, Silvretta, Rätikon oder
Lechquellengebirge sind Regionen, in denen diese Natur-
räume manchmal in nächster Nähe zu viel besuchten
Tourismusdestinationen liegen. Darin liegt auch die
Bedeutung der weniger erschlossenen Landschaften: Sie
sind Ausgleichsräume – Rückzugsgebiete nicht nur für
die Tierwelt, sondern auch für uns Menschen. Erholungs-
suchende und Gäste in den Tourismusorten schätzen
die Ruhe dieser Gebiete.
Natur gerät unter Druck
Der Landschaftswandel hat natürlich längst die hoch
gelegenen Regionen erfasst. Kultur- und Naturlandschaf-
ten geraten auch im Gebirge zunehmend unter Druck. Im
Vergleich zu vergangenen Generationen agieren wir mit
moderner Technik scheinbar immer unabhängiger von
den naturräumlichen Rahmenbedingungen. Manchmal
scheint es, als gebe es für Bebauungen oder Erschließun-
gen mit Wegen und Straßen keine natürlichen Grenzen
mehr. Auch die Freizeitindustrie forciert den Landschafts-
wandel durch Lifte und Seilbahnen, deren Aus- und
Neubau seit einigen Jahren wieder verstärkt betrieben
wird und oft in bislang kaum erschlossene Naturräume
vordringt. Die Folge dieser Entwicklung ist ein Verlust an
Landschaftsvielfalt, eine Nivellierung der Landschaft und
damit unweigerlich ein Verlust an Attraktivität.
Wertvoll ist, was selten ist. Dies gilt für naturnah
bewirtschaftete Kulturlandschaften gleichermaßen wie
für wenig erschlossene Naturlandschaften. Wenn wir das
gesamte Spektrum der für Vorarlberg typischen Natur-
raumvielfalt erhalten wollen, brauchen wir beides: nicht
erschlossene Räume und vielfältige, also in traditioneller
Weise genutzte Landschaften, die zwischen Bodensee
und Silvretta glücklicherweise noch in unterschiedlichs-
ter Ausprägung erhalten sind. Es existieren rechtliche,
finanzielle und raumplanerische Instrumente zur Erhal-
tung dieser naturräumlichen Vielfalt. Jüngstes Beispiel
sind die Bemühungen um die Ausweisung nicht erschlos-
sener Gebirgsräume, der sogenannten „Weißzonen“.
Chancen nutzen
Kaum etwas erfreut Wanderer und Erholungs-
suchende mehr als eine bunte Blumenwiese. Die Vielfalt
einer Magerwiese symbolisiert im Kleinen, wie wir die
Entwicklung im Großen steuern können. Die uns heute
zur Verfügung stehenden Möglichkeiten bedeuten also
zugleich Chancen und Gefahren. Bleibt die Hoffnung,
dass wir künftig vor allem die Chancen erkennen.
04 vielfalt
Mag. Markus Grabher ist Biologe und leitet das Umweltbüro
Grabher (UMG) in Hard. Zu den Schwerpunkten zählen bota-
nische und zoologische Bestandserhebungen, Konzepte für
Landnutzung, Planung, Beratung, Erstellen von Gutachten
und Fotografie.